FAQ zu Lützerath
Die Bewohner*innen von Lützerath haben ihr Zuhause meist nicht freiwillig verlassen, sondern wurden unter Androhung von Enteignung dazu gezwungen. Wenn Landwirt*innen nicht umsiedeln wollten, drohte RWE ihnen mit Beendigung der Pacht von Ackerland, sodass ihre Existenzgrundlage auf dem Spiel stand.
Eckardt Heukamp, der letzte Landwirt von Lützerath, hat sich gegen seine Enteignung gerichtlich gewehrt und letztlich vor dem Oberverwaltungsgericht Münster verloren. Das Gericht begründet die Rechtmäßigkeit seiner Enteignung mit dem überwiegenden Allgemeininteresse der Versorgung des Marktes mit Rohstoffen, das über dem Eigentumsrecht Einzelner stehe. Das Gericht machte jedoch deutlich, dass klimawissenschaftliche Argumente im Entscheidungsprozess kaum eine Rolle spielen konnten, da der Gesetzgeber dafür keine ausreichende Grundlage geschaffen hat. Das OVG Münster schreibt in seinem Urteil: „Weitgehend betrifft der Vortrag eher klimapolitische Forderungen, die im geltenden Recht keine Grundlage haben und an den Gesetzgeber zu richten wären. Insbesondere zeigen die Antragsteller nicht auf, dass sich aus dem Klimabeschluss ein sofortiges Ende der Braunkohleförderung und ‑verstromung ableiten lässt. Die vom Bundesverfassungsgericht geforderten gesetzlichen Festlegungen zur Verteilung eines nationalen CO2-Restbudgets fehlen noch weitgehend.“
Es ist daher Aufgabe der Bundesregierung, ein nationales CO2-Budget festzulegen, auf dessen Grundlage bundesländerspezifische oder sektorale CO2-Budgets erstellt werden können. Erst wenn der Gesetzgeber der Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts nachgekommen ist, können Klagen gegen Braunkohle vor Gericht mit Aussicht auf Erfolg geführt werden. Aktuell weigern sich jedoch alle Bundesländer und auch die Ampel-Regierung diesem Auftrag Folge zu leisten.
Unser Bündnis „Alle Dörfer bleiben“ hat sich 2018 mit dem Ziel gegründet, alle von Zerstörung für Braunkohle bedrohte Dörfer in Deutschland zu retten und so dafür zu sorgen, dass die im Pariser Klimaabkommen vereinbarte 1,5°-Grenze nicht überschritten wird. Über den Zusammenhang zwischen dem Erhalt von Lützerath und der Einhaltung der Pariser Klimaziele siehe „Warum kämpft ausgerechnet die Klimabewegung für Erhalt eines verlassenen Dorfes?“
Abgesehen davon, dass ehemalige Bewohner*innen den Ort ihrer Kindheit auch in Zukunft besuchen können wollen, geht es beim Kampf um Lützerath vor allem darum, die Erweiterung des Tagebaus Garzweiler II zu verhindern – und so die abbaubare Kohlerestmenge zu begrenzen. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) dürfen seit Januar 2023 nicht mal mehr 20 Millionen Tonnen Braunkohle aus dem Tagebau Garzweiler II gefördert werden, wenn Deutschland seiner internationalen Verpflichtung zur Einhaltung der, im Pariser Klimavertrag beschlossenen, 1,5° Grenze mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit nachkommen will. Diese festgelegte Menge an Kohle wird bei der aktuellen Abbaugeschwindigkeit bereits dieses Jahr erreicht. Würde man historische Emissionen hinzuziehen oder die Einhaltewahrscheinlichkeit hochsetzen, hätte die Kohleverstromung bereits vor Jahren beendet werden müssen. Mona Neubaur (grüne Wirtschafsministerin in NRW) und Robert Habeck (grüner Bundeswirtschaftsminister) haben sich in der sogenannten „Eckpunktevereinbarung für den Kohleausstieg 2030“ mit RWE darauf verständigt, dass aus dem Tagebau bis 2030 weitere 280 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden dürfen. Der Erhalt von Lützerath würde dafür sorgen, dass die dahinter und darunter liegende Kohle nicht gefördert werden könnte. So kann ein Großteil des Abbaus der geplanten Fördermenge verhindert werden.
Die Allgemeinverfügung zur Räumung basiert auf dem im Dezember 2022 von NRW Wirtschaftsministerin Neubaur genehmigten Hauptbetriebsplan, der wiederum im wesentlichen auf § 48 KVBG (Kohleausstiegsgesetz) basiert. Der Paragraph behauptet ohne jegliche Belege, dass der Braunkohle-Tagebau Garzweiler II als einziger Tagebau in ganz Deutschland “energiewirtschaftlich notwendig” sei.
Die Grüne Bundestagsfraktion ließ 2021 die Rechtmäßigkeit von § 48 vom Verfassungsrechtler Prof. Dr. Georg Hermes bewerten. Deutliches Ergebnis: Der Bund verfüge nicht über die Kompetenz, Tagebauplanung zu betreiben, da dies in den Zuständigkeitsbereich der jeweiligen Bundesländer falle. Darüber hinaus dürfe kein einzelner Tagebau bevorzugt werden, ohne dass bundesweit geprüft wurde, ob dafür eine Erforderlichkeit bestehe. Prof. Dr. Thomas Schomerus hatte im gleichen Jahr im Auftrag der Klima-Allianz den Paragraphen bewertet und ihn ebenfalls für verfassungswidrig erklärt. Bedarfsfeststellungen müssten ausreichend geprüft, begründet und die Belange aller Betroffenen abgewogen werden – das sei im Falle des § 48 nicht geschehen.
Klage gegen den Hauptbetriebsplan oder § 48 erheben kann laut Urteil des Bundesverfassungsgerichts nur ein*e Eigentümer*in, die von Enteignung im Bereich des neuen Hauptbetriebsplanes betroffen ist. Die Anwohner*innengemeinschaft „Menschenrecht vor Bergrecht“ prüft derzeit, ob eine solche Klage möglich und finanzierbar ist.
NRW-Umweltminister Oliver Krischer, der die Räumung von Lützerath mit vorantreibt, schrieb im März 2021 auf seiner Facebook-Seite zu § 48 KVBG: “’Energiewirtschaftlich notwendig’ sei der Tagebau in Garzweiler heißt es (…) im Gesetz. Das ist natürlich Quatsch und dient einzig dem Zweck, dass RWE die letzten Dörfer rund um den Tagebau besser abreißen kann, um dort die Braunkohle zu fördern. Da wurde eine Unwahrheit in ein Gesetz geschrieben, in der Hoffnung, dass sie dadurch zur Wahrheit wird.”
Als sich die grüne Bundestagsfraktion 2021 noch in der Opposition befand, kündigte Sie eine Verfassungsklage gegen §48 an. Nun wo sie sowohl das NRW Wirtschaftsministerium als auch das Bundeswirtschaftsministerium leiten, stützen sie die Räumung auf den verfassungswidrigen Paragraphen.
Recherchen von Greenpeace legen nah, dass der damalige NRW-Minsterpräsident Armin Laschet § 48 auf Wunsch von RWE ins Kohlegesetz verhandelt hat. Anstatt den verfassungswidrigen Paragraphen zu streichen, wurde er von der Ampel-Koalition ohne wesentliche Änderungen ins vor Kurzem reformierte KVBG übernommen.
Das von der NRW-Landesregierung im Zuge des RWE-Deal beauftragte Gutachten von BET besagt, dass aus dem Tagebau Garzweiler II in seinem derzeitigen Tagebaudesign noch 170 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert werden können, ohne dass Lützerath abgebaggert werden müsste. Die Forscher*innen des DIW kommen sogar auf 190 Millionen Tonnen. Bei einer jährlichen Fördermenge von 20 bis maximal 40 Millionen Tonnen Braunkohle würde der Vorrat daher selbst im extrem unwahrscheinlichen Fall eines Kraftwerksbetriebes unter Dauervolllast für weitere 4,25 Jahre ausreichen, ohne dass die Energieversorgung bei Erhalt von Lützerath gefährdet wäre. Bei der derzeitig geplanten Auslastung der Kraftwerke von durchschnittlich 25 Millionen Tonnen pro Jahr würde die Menge im jetzigen Tagebaudesign sogar für 6,8 Jahre, also bis kurz vor Ende 2030 ausreichen. Legt man die vom DIW errechneten Vorräte zu Grunde, reicht der Kohlevorrat außerhalb von Lützerath ganz sicher bis zum Ende der Kohleverstromung 2030 aus.
Auch wenn die wissenschaftliche Literatur sich uneinig ist, ob der Vorrat außerhalb Lützeraths sicher bis 2030 ausreicht, besteht vollständige Einigkeit darin, dass es in den nächsten drei Jahren nicht zu einer Kohlemangellage aufgrund des Erhaltes von Lützerath kommen würde. Das sehen auch die eigens von der NRW-Landesregierung im Zuge des RWE-Deals beauftragten Studien nicht anders.
Die Behauptung, die Kohle unter Lützerath würde wegen der Gaskrise in den nächsten zwei Wintern benötigt, ist daher wissenschaftlich nicht haltbar – es gibt keine einzige Studie, die zu diesem Ergebnis kommt. Des Weiteren gilt, dass es aufgrund des technisch bedingten langsamen Tagebauvortriebs auf den tieferen Sohlen gar nicht möglich ist, die Kohle unter Lützerath in den nächsten drei Jahren zu fördern. Aller Voraussicht nach würden die Bagger die Kohle unter Lützerath erst Mitte bis Ende der 20er Jahre fördern.
Das hängt vor allem davon ab, wie sich der Ausbau der Erneuerbaren Energien, der Energiemarkt und der CO2-Preis entwickeln. Die Landesregierung rechnet in ihren Szenarien mit unwahrscheinlich konservativen Annahmen, bei denen die Ausbauziele der Bundesregierung für erneuerbare Energien nicht erreicht werden und der CO2-Preis auch Ende der 20er Jahre noch relativ niedrig bleibt. Hinzu kommt, dass die Studie in wesentlichen Teilen auf Daten von RWE basiert und unter großem Zeitdruck erstellt wurde. Die angenommene Menge von 55 Millionen Tonnen Braunkohle zur Veredelung basiert beispielsweise vollständig auf RWE-Angaben (siehe Seite 27 des BET-Gutachtens). Diese Annahmen treffend kommt die BET-Studie der Landesregierung zu der Einschätzung, dass die Kohle unter Lützerath bis 2030 gebraucht werde.
Unabhängige Studien kommen jedoch zu ganz anderen Ergebnissen. Die bisher einzige tiefgreifende Energiemarktsimulation des renommierten Forschungsinstituts Aurora Energy Research zeigt, dass die Kohle unter Lützerath aller Wahrscheinlichkeit nach zur Sicherstellung der Energieversorgung nicht benötigt wird. Der Bedarf beträgt laut Studie bis 2030 maximal 124 Millionen Tonnen, während laut Gutachten der NRW-Landesregierung bei einem Erhalt von Lützerath noch 170 Millionen Tonnen Kohle förderbar wären.
Das DIW kommt in seiner aktuellsten Analyse ebenfalls zu dem Ergebnis, dass die Kohle unter Lützerath trotz der Gaskrise nicht benötigt werde: „Die Abbaggerung weiterer Dörfer wegen darunterliegender Braunkohlevorräte ist für den Braunkohlestrombedarf jedoch nicht notwendig. Dies gilt auch für die Orte Lützerath im Rheinland und Mühlrose in der Lausitz.“
Die Forschungsgruppe Fossil Exit um Prof. Dr. Pao-Yu Oei und Catharina Rieve hat auch ein sehr lesenswertes eigenes FAQ zum Thema produziert.
Ob der Abraum unter Lützerath zur Sicherung des Tagebaus Garzweiler II benötigt wird, hängt wesentlich von der Tagebaugeometrie, der Nachnutzung des Restloches und Massentransporten zu den Tagebauen Garzweiler I und Hambach ab. Laut Landesregierung werden für die veraltete Planung der Vorgängerregierung für die vollständige Wiederverfüllung von Garzweiler I, Massentransporte nach Hambach und die Stabilisierung des zukünftigen Sees 650 Mio. m³ Abraum benötigt. Durch den Erhalt von Lützerath käme es laut geologischem Dienst NRW zu einem Massendefizit von 250 Mio. m³.
Eine erste politische Entscheidung über die neue Tagebaugeometrie, Nachnutzung sowie Massentransporte wird die neue Landesregierung in der für Sommer 2023 angekündigten Leitentscheidung treffen. Ohne Kenntnis der politischen Rahmenbedingungen ist eine genaue Aussage über den dann bestehenden Abraumbedarf derzeit spekultativ.
Es lässt sich jedoch sagen, dass das auf den veralteten Planungen basierende Massendefizit durch Umplanungen gedeckt werden kann: bei einem Stopp der Massentransporte von Garzweiler II nach Hambach (Einsparung ca. 50 Mio. m³ Löß/Substrat – BET S. 31) und der Entscheidung für eine „Arche-Lösung“ des Tagebaus Garzweiler I statt einer vollständigen Wiederauffüllung, wie es das von der Landesregierung beauftragte wasserwirtschaftliche Gutachten der Ahu GmbH vorschlägt (Einsparung ca. 200 Mio. m³ Abraum – Ahu S. 149).
Es bestehen demnach technisch umsetzbare und ökologisch wertvolle Alternativen, die das durch überholte Planungen existierende Massendefizit von 250 Mio. m³ vollständig decken würden und somit zur Folge hätten, dass der Abraum unter Lützerath nicht benötigt wird. Es bleibt daher eine rein politische Entscheidung, ob das Dorf abgebaggert wird – energiewirtschaftlich und abraumtechnisch besteht dafür keine zwingende Notwendigkeit.
Das wäre zwar wünschenswert, doch ist leider nicht der Fall. RWE hat es geschafft, in Hinterzimmer-Verhandlungen gegenüber Mona Neubaur und Robert Habeck durchzusetzen, dass die gleiche Menge Kohle in kürzerer Zeit und aufgrund der derzeit hohen Preise im Zuge der Energiekrise mit enormen Gewinnen verstromt werden kann. Das belegen aktuelle Forschungen:
Berechnungen der Fossil Exit Group – bestehend aus Forscher*innen des DIW, der TU Berlin und der Universität Flensburg – zeigen, dass der auf 2030 vorgezogene NRW-Kohleausstieg lediglich dafür sorgt, dass die Kohle, die eigentlich nach 2030 verstromt worden wäre, aufgrund der aktuellen Energiesituation und der damit verbundenen kurzfristigen Laufzeitverlängerung, sowie höheren Auslastung von Kohlekraftwerken in den 20ern verstromt werden wird. Im besten Falle werden maximal 64 Millionen t. Kohle gegenüber einem Kohleausstieg 2038, im schlechtesten und wahrscheinlichsten Falle keine einzige Tonne eingespart.
Eine Energiemarkt-Simulation des renommierten Instituts Aurora Energy Reseach kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass durch den auf 2030 vorgezogenen NRW-Kohleausstieg keine einzige Tonne CO2 eingespart würde, da die RWE-Kraftwerke aufgrund der anzunehmenden Preis-Entwicklungen (ETS, CO2-Preis, Ausbau erneuerbare Energien, sinkende Gaspreise, etc.) ohnehin bis 2030 vom Markt gedrängt worden wären. Zudem entstünden 61 Mio t zusätzlich Emissionen durch die in der Änderung des Kohleausstiegsgesetzes (KVBG) beschlossene Verlängerung der Laufzeit von Kohlekraftwerken.